Garnproduktion 1945 - 1981

Wiederaufbau, Modernisierung, Rationalisierung und dann doch die unabwendbare Betriebsschließung. Die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges machten einen umfangreichen Wiederaufbau des Betriebes erforderlich. Viele Männer kamen nach langer Kriegsgefangenschaft teils erst 1948/1949 an ihren alten Arbeitsplatz zurück.

 

Für einige ehemalige Mitarbeiter:Innen gab es keine Rückkehr. Der Krieg hatte auch in die große Wollefamilie Lücken gerissen. Viele waren gefallen oder blieben vermisst. Diese Situation erforderte besonderen Einsatz beim Wiederaufbau. Sogar Rentner:Innen packten noch einmal mit an, um das Werk wieder betriebsfähig zu machen. Nachweislich 55 Dienstjahre und mehr hielten einige dem Unternehmen die Treue.

 

Nicht ohne Probleme gestaltete sich der Wiederanlauf der vollen Produktion (zum Teil von Rüstungsproduktion auf normale Garnproduktion). Schon 1949 schaffte die Spinnerei eine Tagesproduktion von 7-9 Tonnen. Mit der Steigerung der Produktion vollzog sich in den nachfolgenden Jahren ein grundlegender Wandel der Produktionsstätten und Arbeitsplätze.

 

Die Selfaktoren gerieten gegenüber den Ringspinnmaschinen immer weiter ins Abseits. Bedeutend war diese Veränderung besonders für den hochangesehenen Beruf des Spinners, die bestbezahlte und ausschließliche Männerdomäne. Diese Stellung wurde nun von den Spinnerinnen erobert.

 

1964 lag die Tagesproduktion auf den nun überwiegend moderneren Ringspinnmaschinen bereits bei ca. 13 Tonnen. War es vormals die Vormacht der Selfaktorspinner, so zeigten jetzt die Spinnerinnen, wo es langgehen sollte: fast zu 100% gewerkschaftlich organisiert waren sie nun der bestimmende Faktor.

 

Nach Wiederaufbau und Modernisierung produzierten 99 Ringspinnmaschinen mit zusammen 40.000 Spindeln täglich zwischen 15 und 18 Tonnen hochwertige Kamm- und Strickgarne. Die an Spitzentagen gefertigte Garnmenge reichte fast aus, um einmal zum Mond und zurück zu gelangen:

 

Garnnummer * Garngewicht = Garnlänge ergibt

40 Nm * 18.000 kg = 72.0000 km Tagesgarnproduktion

(mittlere Entfernung Erde-Mond = 384.000km)

 

Die gleiche Garnlänge reichte auch aus, die Erde mit ihrem Umfang von 39.979 km 17 mal zu umwickeln oder, um etwa 7.000 Herrenanzüge in Tweed bzw. etwa 9.000 Herrenanzüge in feinstem englischen Kammgarn zu fertigen. Möglich waren auch 24.000 bis 36.000 Herrenpullover a 500 bzw. 750 g, und dieses alles berechnet aus einer Tagesproduktion der Belegschaft an den Ringspinnmanschinen.

 

Alle realistischen Kundenwünsche wurden erfüllt. Das waren überwiegend veredelte Garne in rohweiß und bunt, sowie in den verschiedenen Mischungen., z.B. Wolle/Treviera, Wolle Crylor, Wolle Diolen, Wolle/Dralon u.a. in den Beimischungen 30/70, 40/60, 50/50 sowie reine Wolle vom feinsten Merino bis zum groben Crossbreed.

 

Anschlussaufträge der Kunden und Kundinnen mussten nach Jahr und Tag in gleicher Qualität, Farbe und Güte nachgeliefert werden. Besonders bei Bundes- oder Exportaufträgen waren die Warenprüfämter sehr kritisch.

 

Ältere Mitarbeiter:Innen erinnern sich noch an den großen Jugoslavienauftrag von 180.000 kg Kammgarn in oliv-grün für die jugoslavische Armee. Über Wochen und Monate war ein Teil der Ringspinnerei in Titos Truppengrün gefärbt.

 

Abhängig von bestimmten Vorgaben wie z.B. Garnnummer zwischen 24 bis 60 Nm sowie Garnfestigkeit von 280 bis etwa 560 T/m (= Garndrehungen pro Meter) und der Liefergeschwindigkeit der Maschine von 12 bis etwa 18 Meter pro Minute hatte eine Spinnerin 1975 zwischen 1.200 Spindeln entsprechend 6 Maschinenseiten und 1.600 Spindeln entsprechend 8 Maschinenseiten zu bedienen.

 

1950 umfasste ein zu beaufsichtigender Arbeitsplatz zwischen 2 und 4 Maschinenseiten, also etwa 400 bis 800 Spindeln.

Eine Folge der abverlangten hohen Leistung bei vergleichsweise niedriger Entlohnung war die Abwanderung vieler Fachkräfte in besser bezahlte Jobs. Die auftretende Personalnot machte es erforderlich, mehr und mehr sogenannte Gastarbeiter einzustellen. Aus Spaniern:Innen, Portugiesen:Innen, Italienern:Innen, Jugoslawen:Innen, Griechen:Innen und Türken:Innen setzte sich letztlich mehr als 70% des Personals an den Maschinen zusammen (zuletzt waren es fast nur noch Griechen:Innen und Türken:Innen, die in der Textilindustrie arbeiteten).

 

Abgesehen von den abverlangten hohen Leistungen durch Akkordvorgaben waren auch die Bedingungen an den Arbeitsplätzen in der Textilindustrie nicht gerade ideal. Der Geräuschpegel von 40.000 Spindeln mit bis zu 9.000 Umdrehungen pro Minute stellte eine enorme Lermbelästigung für die Arbeiter:Innen an den Maschinen dar.

 

Zur Fertigung der Garne auf den Ringspinnmaschinen war eine ständige Raumtemperatur von 21°C bei einer Luftfeuchtigkeit von 75% erforderlich. Aus Kostengründen liefen die Maschinen größtenteils durchgehend von sonntags 23:00 Uhr bis samstags 6:00 Uhr. Um dieses zu gewährleisten, war eine ständige Nachtschicht erforderlich.

 

Da Frauen nicht in der Nachtschicht arbeiten durften, wurde diese von Männern abgedeckt. Überwiegend arbeiteten diese Männer dann in Dauerschicht, und das oft über Jahre. Bei den ausländischen Mitarbeiter:Innen war die Dauernachtschicht begehrt, da zum Arbeitslohn die Nachtschichtzulage gezahlt wurde.

 

In der gesamten deutschen Textilindustrie zeichnete sich mit dem Wirtschaftsaufschwung in der deutschen Maschinenbauindustrie schon bald ein harter Überlebenskampf ab. Hochleistungsmaschinen mit neuester Technologie wurden in die ehemaligen Rohstofflieferländer und Billiglohnländer exportiert. Es entstanden dort Textilfabriken mit 60.000 und mehr Spindeln.

 

Die Einfuhr des Rohstoffes Schafwolle mit einem Verarbeitungsverlust von ca. 30% bis zum Fertigprodukt wurde immer unattraktiver. Nur die Veredelung der Produkte in der modernen Färberei und Mischerei, sowie die gute Verarbeitungsqualität ließen es zeitweise so aussehen, als ob es noch ein Überleben gäbe. Nicht Missmanagement (wie bei der kurzzeitigen Nachfolgefirma Rehers), sondern die gesamtwirtschaftliche Entwicklung bestimmten das Aus für die VKS, wie anschließend für viele weitere deutsche Textilunternehmen, z.B. KSW oder Müller und Raschig in Wilhelmshaven.

von: Rudolf Nistler

 

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