Textilarbeiterstreik 1958

Wie fast alljährlich standen auch im Frühjahr 1958 Tarifverhandlungen für die Textilarbeiter:Innen in Niedersachsen an. Etwa 1600 Textilarbeiter:Innen der NW&K (Norddeutsche Woll- und Kammgarnspinnerei) und ca. 700 Textilarbeiter:Innen der Jutespinnerei gehörten dazu. Nach fristgerechter Kündigung des derzeitigen Vertrages trafen in Hannover seitens der Textilarbeiter:Innen deren Tarifkommission (Abgeordnete aus den Betrieben und ihre Gewerkschaftsvertreter:Innen) mit den Vertretern der Arbeitgeber im Verband der Textilindustrie zusammen.

 

Betriebliche und örtliche Tarifkommissionen hatten im Vorfeld ihre Forderungen aufgestellt und diese über ihre Gewerkschaftsvertreter:Innen dem Arbeitgeberverband-Textil übermittelt.

 

Die Erwartungen waren diesmal deutlich höher als in den Vorjahren, da mittlerweile ein:e Textilarbeiter:In mit einem Lohn von etwa 1,22 DM/Std. um ca. 0,44 DM/Std. unter dem Durchschnitt anderer Industriearbeiter:Innen lag. Das von den Arbeitgebern gemachte erste Angebot von 3-4 Pf/Std. gefiel den Textilarbeiter:Innen, insbesondere den der NW&K, überhaupt nicht.

 

Das von der Verhandlungskommission aus Hannover unter Führung des Bezirksleiters Georg Drescher und des Delmenhorster Gewerkschaftssekretärs Werner Arend übermittelte Angebot der Arbeitgeber führte bei der Belegschaft der NW&K spontan zum Produktionsstillstand (Proteststreik). Durch den Betriebsrat mit dem derzeitigen Vorsitzenden Jakob Blum informiert, war die enttäuschende Nachricht über die Vertrauensleute der verschiedenen Abteilungen, wie z.B. Tilly Hartwig, Eva Schanewski, Anna Hellwig, Hanna und Pauline Bornemann oder Ernst und Guste Oestmann u. a. rasend schnell bis zur letzten Arbeiterin, bzw. letzten Arbeiter gelangt.

 

Im sogenannten Ballenlager versammelte man sich zu einer Protestversammlung. Im ganzen Betrieb drehte sich kein Rad mehr. Dieser Vorgang wurde umgehend beiden Verhandlungspartnern nach Hannover übermittelt. Damit dieser spontane Vorgang nicht in einen wilden, das heißt ungesetzlichen Streik ausuferte, wurden nach langen heftig geführten Debatten die Maschinen wieder in Gang gesetzt, in der Hoffnung, dass die Arbeitgeberseite zu einem besseren Angebot bereit sei. Diese Erwartung erfüllte sich jedoch nicht.

Nach weiteren Verhandlungen waren die Arbeitgeber letztlich nur dazu bereit, die Löhne um 7-8 Pf/Std. zu erhöhen. Dieses letzte Angebot wurde von der Arbeitnehmerseite als eindeutig zu gering abgelehnt.

 

In Betriebsversammlungen wurde mit absoluter Mehrheit die Arbeitsniederlegung gefordert. Die folgende Urabstimmung bestätigte diese Forderung. Somit kam es zum Streik, an dem sich in Niedersachsen abgesehen von der NW&K und der Jute in Delmenhorst, Textilbetriebe in Hannover (Dörner Wolle), in Braunschweig, Hildesheim und Hameln mit ingsgesamt etwa 6.000 Textilarbeiter:Innen  beteiligten.

 

Streik! Was bedeutete das?

Die Firma zahlte keinen Lohnausfall. Von der Gewerkschaft gab es Streikunterstützung entsprechend der gezahlten Gewerkschaftsbeiträge in unterschiedlicher Höhe.

 

Nicht organisierte Arbeitnehmer standen vor finanziellen Problemen. Sofortiger Beitritt zur IG-Textil mit entsprechenden Nachzahlungen, etwa des letzten Quartals, war die einzige Möglichkeit, um wenigstens einigermaßen über die Runden zu kommen. In Notfällen gab es von der IG-Textil auch gelegentlich Sozialzulagen.

 

Die meisten Männer, aber auch einige Frauen, bezogen stundenweise Streikposten vor den Werktoren, um Streikbrechern den Zutritt zum Werk zu erschweren. Selbst für enge Arbeitskameraden oder gar Freunde gab es da keine Ausnahmen. Handwerker und Technisches Personal durften" Notdienst verrichten, um Schäden an Material und Anlagen zu vermeiden.

Die Gewerkschaft veranstaltete in der Delmehalle Versammlungen um laufend aktuell zu informieren, da ja die Werke nicht betreten werden durften. Für Angehörige und Kinder der Streikenden gab es kostenlos Revue- und Kinderveranstaltungen. Für die Angestellten, besonders aber die Meister, die ja von dieser Tarif- bzw. Lohnauseinandersetzung auf Grund ihres Gehaltstarifvertrages nicht betroffen waren, gab es hinreichend Probleme. Der allergrößte Teil von ihnen war selbst gewerkschaftlich organisiert.

 

Die Produktion stand still. Tätigkeiten, die sie als Streikbrecher:Innen hingestellt hätten, führten sie nicht aus. Wie lange der Streik andauern würde, war nicht abzusehen. Es war für sie also eine Gratwanderung zwischen Solidarität und Pflicht. Schon seit Beginn der gesamten Aktionen, z.B. Produktionsstopps und wie es damals hieß Zusammenrottungen, war von ihnen ein hohes Maß an Solidarität gefordert, um die Situation nicht zu eskalieren oder die mögliche eigene Aussperrung zu betreiben. So zogen sie sich zurück, erfassten wo es nötig war die Maschinenstillstandszeiten und beobachteten den Verlauf des Arbeitskampfes mehr aus dem Hintergrund.

Als absehbar war, dass es sich in diesem Fall um eine längere Auseinandersetzung handelte, gab es für die Angestellten und insbesondere die Meister doch eine Menge Aufgaben. Um Materialverluste bzw. Schäden in Grenzen zu halten, musste auch hier der Notdienst geleistet werden, der von beiden Vertragspartnern genehmigt war. Die Produktionsmaschinen mussten einzeln leergefahren werden. Das Material musste abgeräumt, abgedeckt oder wenn erforderlich, entsprechend gelagert werden (Kammzugkeller, Nebelkammer oder feuchter Garnkeller).

 

Um einer Aussperrung wegen Arbeitsmangels so lange wie möglich zu entgehen wurde eine intensive Wartung und Pflege aller Produktionseinheiten durchgeführt.

 

Weitere Tarifverhandlungen brachten kein verbessertes Angebot seitens der Arbeitgeber. Die letzte Möglichkeit, eine Einigung zu erzielen, waren nun Verhandlungen unter Leitung eines Schlichters. Dem von ihm ausgehandelten Kompromiss, der eine Lohnerhöhung zwischen 15 und 19 Pf/Std. für die unterschiedlichen Lohngruppen vorsah, stimmten in einer erneuten Urabstimmung die erforderliche Mehrheit derTextilarbeiter:Innen zu.

Damit fand der mit bis zu 9 Wochen bislang längste Textilarbeiterstreik in Niedersachsen, ein nur zum Teil zufriedenstellendes Ende. Die Textilarbeiterschaft hatte einmal mehr bewiesen, dass nur durch Geschlossenheit und mit der Unterstützung der Gewerkschaft das gesetzte Ziel, wenn auch nur annähernd, erreicht werden konnte.

 

Miterlebt und aus der Erinnerung aufgeschrieben: Rudolf Nistler (zu der Zeit Meister in der Spinnerei).


Wie aber stellte sich der Streik aus der Sicht der Verwaltung, insbesondere der Verkaufsabteilung dar? Diese waren an dem Arbeitsausstand nicht beteiligt. Man hatte zum weitaus überwiegenden Teil kein Verständnis für den Streik und vertrat die Meinung, dass seitens der IG Textil die Verhandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft wurden. Hinzu kam, dass der Delmenhorster Gewerkschaftssekretär als Demagoge angesehen wurde, der sich mit dem Streik profilieren wollte.

 

Insbesondere in der Verkaufsabteilung der NW&K setzte man allen Ehrgeiz daran, die Kunden Auswirkungen des Streikes nicht spüren zu lassen. Aufgrund des gesättigten Marktes und einer dadurch bedingten schwachen Konjunktur für Kammgarne, durfte kein Kunde verloren gehen, um nicht die Existenz aller Arbeitsplätze, also auch die der Streikenden, zu gefährden.

 

Aufgrund der schwachen Konjunktur gab es in Europa zahlreiche Kammgarnspinnereien, welche dringend Aufträge benötigten. Das versetzte die NW&K in die Lage, problemlos Lohnaufträge an andere Kammgarnspinnereien, von A, wie Augsburg, bis R, wie Rijssen, zu vergeben. Die im Hause befindlichen Halbfabrikate wurden mit Hilfe junger Verwaltungsangestellter versandfertig gemacht und den Spediteuren zur Weiterleitung an die Lohnspinner:Innen übergeben. Noch nicht im Hause befindliche Kammzüge wurden direkt an die Lohnbetriebe umgeleitet. Auch originales NW&K - Verpackungsmaterial und Originalhülsen stand jenen Spinnereien zur Verfügung.

 

Extern für die NW&K arbeitende Spinnereien erhielten genaue Anweisungen darüber, wie zu produzieren sei, auch wenn hierfür zum Teil Betriebsgeheimnisse wie z.B. Kammzugmischungen oder auch Farbrezepte verraten werden mussten. Selbst die Nummerierung der einzelnen Packstücke mit der originalen Nummerierung der NW&K war vorgeschrieben. Im Endeffekt gab es allenfalls ganz zu Beginn des Streikes Lieferverzögerungen von maximal einer Woche. Die Kundenaufträge konnten zuverlässig erfüllt werden.

 

Zu jener Zeit war das schnellste Kommunikationsmittel für Schriftverkehr der Fernschreiber (Telex). Alle notwendigen Angaben zu den versandfertigen Garnen, wie Anzahl der Spulen, Brutto-, Tara- Netto- und Konditioniergewicht, wurden von den Lohnspinnereien per Telex nach Delmenhorst durchgegeben, hier erstellte man dann die Rechnungen, Lieferscheine und Versandpapiere. Anschließend erhielten die Spediteure Anweisung, wo man welche Ware abzuholen und an welchen Kunden zu liefern sei. Durch diese Praxis erhielten die Lohnspinner in der Regel keine Information darüber, für welchen Kunden die Ware bestimmt war. Die Kunden ihrerseits erhielten originale" NWK Ware mit originalen Lieferscheinen und Rechnungen der NW&K zum ursprünglich vereinbarten Liefertermin.

 

Aus heutiger Sicht kann man mit Blick auf die sehr begrenzten technischen Möglichkeiten der Kommunikation jene Auftragsabwicklung als eine logistische Meisterleistung bezeichnen. 

 

Miterlebt als Verkaufsangestellter und aus der Erinnerung aufgezeichnet von Ernst W. de Haas.

 

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