Werkssiedlung Heimstraße und Mädchenheim

In der Zeit von 1900-1922 entstand die mit 140 Wohnungen größte Werksiedlung des Unternehmens mit der Siedlung 

Heimstraße". Sie umfasste die bis heute erhaltenen Häuser der parallel zueinander liegenden Straßen Heim-,Pappel- und Eichenstraße sowie der dazu quer verlaufenden Birkenstraße. Von der anderen Seite wurde der Komplex von dem ersten Mädchenwohnheim begrenzt, dem 1910 ein zweites Mädchenwohnheim in der Nähe folgte.

 

Bei der Werkssiedlung handelt es sich um 60 zumeist freistehende Doppelhäuser mit je zwei Wohnungen zu 45 qm mit Küche und Stube im Erdgeschoss und zwei Kammern im Obergeschoss. Überwiegend Handwerkern und Feuerwehrleuten wurden diese Wohnungen zur Verfügung gestellt. 

Die Konzeption dieser Häuser zeigt speziell in der Heimstraße die Ideen der damals in Großbritannien entwickelten Arbeiterstädte im Grünen, der sogenannten Gartenstädte". Diese wurde damals im wesentlichen von der englischen Gattin Carl Lahusens, Armine Lahusen, initiert. Mit einem kleinen Vorgarten, einem größeren Nutzgarten hinter dem Haus, einem Anbau zum Garten mit Waschküche und Stall ermöglichte man den Familien die Haltung von Nutztieren und somit eine preisgünstige günstige Selbstversorgung. Zusätzlich konnten sie das damals noch unbebaute Fabrikgelände nördlich der Siedlung als Gemüse- oder Weideland pachten.

 

Während die meisten Häuser des Komplexes auf einfache Weise mit Steinen aus den produktionseigenen Kohleschlacken gebaut wurden und zum Teil nur außen verziegelt waren, setzten sie dennoch Akzente auf der ästhetischen Ebene.

 

Nach 1900 bemühte man sich, die typische von Ziegeln bestimmte Fabrikbauweise attraktiver zu gestalten. Mittels weißverputzter Fassaden, Ziegelstreifen oder farbig abgesetztem Fachwerk sollte ein heimatlicher und ländlicher Eindruck geschaffen werden.

Die Vermittlung von Heimatgefühl bzw. Häuslichkeit wurde als wichtiger Anreiz gesehen, die Zufriedenheit und Leistungsbereitschaft der Arbeiter:Innen zu steigern. Deshalb wurde das Werkswohnungswesen als ein Pfeiler der betrieblichen Sozialpolitik von den Lahusens bewusst gefördert. In dieser Weise wurden die Beschäftigten langfristig an die Nordwolle. Daher konnten zum Beispiel gewisse Forderungen der Arbeiter, wie etwa höhere Lohnforderungen, leichter zurückgewiesen werden. In einer Zeit großer Wohnungsnot wurde mit einer Koppelung von Arbeitsvertrag und Werkswohnungsnutzung das Verhalten der Wollearbeiter:Innen zusätzlich im Sinne des Unternehmens manipuliert.

Das erste große Mädchenheim, welches an die Siedlung grenzte, wurde 1898 erbaut. Es bot Wohnraum für 150 junge, unverheiratete Arbeiterinnen, die mit der expandierenden Produktion und dem zunehmenden Bedarf an weiblichen Arbeitskräften aus den südosteuropäischen Regionen angeworben wurden.

 

Großzügigkeit zeichnet das Heim hinsichtlich der Unterbringung und Versorgung der jungen Frauen aus: Zwei und Dreibettzimmer statt Schlafsäle, ein großer Speiseraum im Erdgeschoss, Übungs- und Ausbildungsräume im Dachgeschoss zur Vorbereitung auf die Arbeit an den Maschinen, ein Lehrzimmer" für den obligatorischen Deutschunterricht und eine Hauskapelle für regelmäßige Gottesdienste.

 

Diakonissen sorgten für eine strenge Erziehung und kamen der Fürsorgepflicht für die Mädchen nach. Dafür mussten die Mädchen 5,50 Mark von ihrem Wochenlohn (15 Mark) für Logis, Kost etc. bezahlen. Anders als die Doppelhäuser der Siedlung war das Wohnheim zu drei Seiten hin betont schlicht gehalten, nur die dem Wollepark zugewandten Westseite wirkte durch den pavillonartigen Chor der Kapelle aufgelockert.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann eine wechselvolle Geschichte für das Mädchenheim. Nachdem es in den 1920iger Jahren unter der Leitung der Lahusens für betriebliche Zwecke genutzt worden war, wurde es in den 1930igern zum NS-Gefolgschaftshaus ausgebaut und für die damalige Propaganda genutzt (vgl. Nutzung der Kapelle als Turnhalle; Aufenthaltsraum im Erdgeschoss und Ausbildungsraum im Dachgeschoss als Versammlungsräume). Nach dem Zweiten Weltkrieg beschlagnahmten die englischen Besatzungsmächte das Haus, weshalb die Räumlichkeiten dann von der  Objektschutzpolizei" in Anspruch genommen wurden. Später diente es, wie auch das zweite Mädchenheim, Heimatvertriebenen als Massenquartier. Vorübergehend wurde es dann wieder ein betriebliches Lager. Bis in die Mitte der 1970iger Jahre war das renovierte Dachgeschoss Ort der Betriebsversammlungen der NW&K, der sonstige Innenraum diente ab Ende der 1960iger Jahre schon als Wohnheim für im Zuge der Arbeitsmigration angekommene Ehepaare.

 

Nach der Stilllegung der Fabrik wurde das erste Mädchenwohnheim aus Gründen des Denkmalsschutzes als besonders erhaltenswert eingestuft und als eines der ersten Gebäude auf der Nordwolle aufwendig saniert. Seit 1987 dient es als Senioren-Wohnanlage. 

 

Das zweite Mädchenwohnheim, welches zwar noch vor dem Ersten Weltkrieg neben dem ersten Wohnheim der NW&K gebaut worden war, wurde aber niemals wie ursprünglich erdacht als Kinderheim genutzt. Stattdessen wurde es während des Ersten Weltkrieges zum Lahusen-Lazarett" umfunktioniert. Ab 1930 befand sich dort die Spulerei/Zwirnerei. Im 2. Weltkrieg und auch danach diente es diversen Zwecken wie zum Beispiel als "Heim für Heimatvertriebene", Zwangsarbeiter:Innen aus Polen, Russland und der Ukraine und der Unterbringung türkisch, griechisch und spanisch stämmiger Mitarbeiter:Innen. Nach dem Ende des Betriebs der NW&K wurde es Mitte der 1980er Jahre abgerissen.

Auch die Werkssiedlung Heimstraße erfuhr nach dem Zweiten Weltkrieg ein wechselvolles Schicksal. Während die Häuser der Birken- und Eichenstraße in den 1970er Jahren größteils in Privatbesitz übergingen und Haus und Grundstück von den Besitzern individuell umgestaltet wurden, blieben die Pappel- und Heimstraße unverändert. Nachdem diese für einige Jahre ausländischen Arbeitnehmer:Innen zur Verfügung gestellt worden waren, wurden sie nach der Aufgabe des Betriebs der NW&K 1981 unter Denkmalschutz gestellt.

 

Mittlerweile befinden sich auch diese Häuser in privatem Besitz, sind renoviert und bieten nach all dem historischen Geschehen ihren Bewohner:Innen nun eine neue Wohnqualität.

 

von: Elke Schaffarzyk

 

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